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Quelle: http://www.sandbothe.net/891.html

Prof. Dr. Mike Sandbothe


Erscheint in: Making of 2-3 Straßen, hrsg. von Hermann Pfütze u.a. Köln: Dumont 2011

Mike Sandbothe

Der Mensch als Medium der Kunst

Freie Assoziationen zu 2-3 Straßen

Es war für mich ein wenig wie coming home. Die 2-3 Straßen, die sich Jochen Gerz für seine „Ausstellung“ ausgesucht hat, befinden sich in Mülheim, Duisburg und Dortmund. In den sechziger Jahren sind meine Eltern im Winter mit mir ins Hallenbad nach Mülheim gefahren. Wir wohnten in Essen-West. Im Sommer verbrachten wir die Wochenenden in Duisburg. Dort hatten meine Eltern einen Wohnwagen. Er stand auf einem FKK-Campingplatz in Großenbaum. Im Winter war der Platz geschlossen. Aber im Mülheimer Hallenbad gab es in der kalten Jahreszeit einmal im Monat Nacktschwimmen. So war das in meiner Ruhrgebietskindheit.

Vom 24. bis 26. November 2010 war ich Gast in der Pension zur Kunst. Sie befindet sich im 19. Stockwerk desjenigen Hochhauses am Hans-Böckler-Platz 7 in Mülheim an der Ruhr, das als „vertikale Straße“ der Grund dafür ist, dass 2-3 Straßen nicht 3 Straßen heißt. Ein wundervoller Blick Richtung Westen. Die Betten nach Norden ausgerichtet. Ebenso der Tisch mit dem Schreibtool. Im Osten eine Kochecke und im Südwesten ein kleiner Tisch zum Frühstücken. Im Kühlschrank Käse, Milch, Butter, Mineralwasser, Joghurt; und jeden Morgen frische Brötchen vor der Tür. Ein Stockwerk höher, at the top, das für alle Hausbewohner offene Schwimmbad mit Sauna.

Womit wir wieder beim Nacktbaden sind. Ich habe es nicht gemacht. War auch nicht in der Sauna. Aber einige der neuen Mieter sind sich und den alten Mietern wohl zum ersten Mal bei Temperaturen über 80 Grad begegnet. Nun ja, einen sozialen Brennpunkt hatte ich mir anders vorgestellt. Aber am nächsten Tag waren wir in Duisburg-Hochfeld. Hier gibt es in den meisten Wohnungen noch nicht einmal eine ordentliche Heizung.

Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, die Orte meiner Kindheit bei dieser Gelegenheit einmal wieder aufzusuchen. Doch dazu blieb keine Zeit. Weder in Mülheim noch in Duisburg. Ein Termin folgte dem nächsten. Bildende Künstler arbeiten sonst mit Leinwand, Farbe und Pinsel, mit Stein, Hammer und Meißel. Zum künstlerischen Werkzeug von Jochen Gerz aber gehören Koordinationsbüros. Das Medium, das er mit ihrer Hilfe bearbeitet, ist der öffentliche Raum, die Straße, der soziale Alltag – und die Presse, die Wissenschaft, die Sicht von außen. Seine Farbpalette besteht aus 24 Teilnehmerinnen und 54 Teilnehmern. Die Koordinationsbüros vermitteln Termine mit ihnen.

Es hat sich nicht schlecht angefühlt, für 3 Tage und 2 Nächte Teil eines lebendigen Kunstwerks zu sein. Auch wenn die meisten Teilnehmer, die ich getroffen habe, nach einem Jahr gelebter Kunst ziemlich enttäuscht wirkten. Aber der für das 1-2 Millionenprojekt verantwortliche Künstler hatte sie ja auch mit einer ziemlich anspruchsvollen Utopie im Revier zurückgelassen: „Wir schreiben ... und am Ende wird meine Strasse nicht mehr die gleiche sein.“ Der Meister selbst kam jede zweite Woche aus Irland eingeflogen und schaute nach, ob und wie sich seine Kunst am und im öffentlichen Raum entwickelte.

Im Laufe meiner Gespräche mit neuen und alten Mietern, aber auch mit den Mitarbeiterinnen der Koordinationsbüros in Mülheim und Duisburg sowie der Zentrale im Essener Hauptbahnhof wurde ein Eindruck immer stärker: das Verhältnis von Innen- und Außenkommunikation ist in dem sozialen Kunstexperiment nicht wirklich ausbalanciert. Auf professionelle Pressearbeit wurde mehr Wert gelegt als auf die achtsame Begleitung der Teilnehmer. Mehr noch: der Zusammenhalt der ehemals 78 hat sich aufgelöst. Einige sind schon abgereist, wurden im Laufe des Jahres gegen andere ausgetauscht, manche kommen nur noch sporadisch und leben längst schon wieder woanders und die Mehrzahl derjenigen, die geblieben sind, kann sich und den realen Verlauf des Experiments im professionell konstruierten Medienbild nicht wieder erkennen.

In den siebziger Jahren hat Gerz das folgende Bekenntnis abgelegt: „Ich glaube an eine Gesellschaft, in der die Menschen die Medien sind. Ich glaube nur an das menschliche Wesen als Medium (...).“1 Dieses menschenfreundliche Medienmantra könnte im Laufe des 21. Jahrhunderts als kulturtherapeutisches Programm Schule machen. Aber ist es hilfreich, dieses Mantra als Kunst umzusetzen? Im sozialen Kunstwerk wird das menschliche Medium zum Material des Künstlers. Deshalb treten alle Nutzerinnen und Nutzer des von Gerz für 2-3 Straßen entwickelten Schreib-Tools bei jeder Texteingabe erneut ihre Autorenrechte an „den Künstler“ ab.

Das Schreib-Tool, dessen tägliche Nutzung für alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer obligatorisch ist, forciert einen überaus artifiziellen Schreibprozess. Das tool besteht aus einem leeren Bildschirm, der nur für das geschriebene Wort (aber nicht für Bilder, Videos oder Sounds) empfänglich ist. Wenn man es zehn Minuten lang nicht bedient, macht das Programm tabula rasa. Die erfassten Daten werden in die zentrale Datenbank überführt, dort gespeichert und vom Nutzerrechner entfernt. Die Nutzerinnen dieses tools werden dabei nicht nur rechtlich enteignet, sondern verlieren bis zur anonymen Publikation in Buchform (also für den Zeitraum eines Jahres) alle Zugriffsrechte auf das von ihnen Geschriebene. Es hat etwas länger gedauert bis ich dieses Procedere verstanden hatte. Zum Abschied habe ich in das Ding die folgende Nachricht eingetastet: „Schriftschlucker!“

Auf der Homepage von Jochen Gerz befindet sich eine Biografie des Künstlers, die Hans-Werner Schmidt geschrieben hat. Darin erwähnt Schmidt, dass Gerz 1943 – also im Alter von 3 Jahren - einen schweren Bombenangriff miterlebt hat. Daraufhin, so weiter der Biograf, habe der kleine Junge die Sprachfähigkeit verloren und sich für mehr als ein Jahr in einem Entwicklungszustand befunden, „welcher aus traditioneller Sicht als zurückgeblieben betrachtet werden kann.“2

Es wäre möglich, dass die traumatische Kriegserfahrung, die Jochen Gerz als Kind gemacht hat, in der idiosynkratischen Konzeption des Schreibtools nachklingt, mit dem der Künstler die Teilnehmer von 2-3 Straßen konfrontiert. Häufig lebt die Kunst von einer unaufgelösten und in ästhetischer Gestalt (bewusst oder unbewusst) immer wieder neu dargestellten Urszene. Viele Künstler und Fachwissenschaftlerinnen sehen in diesem Verschiebungs- und Verdichtungsgeschehen sogar die zentrale Quelle schöpferischer Kreativität. Auch Gerz tut das. In einem Interview mit Heinz-Peter Schwerfel hat er die kompensatorische Dimension seines Metiers wie folgt auf den Begriff gebracht: „Handicap bringt Kunst, Not bringt Kunst.“3

Diese Auffassung liegt nicht nur der minimalistischen Konzeption des Schreib-Tools von 2-3 Straßen zugrunde, sondern der ganzen Idee, soziale Brennpunkte als Kunst zu inszenieren. Während Sozialarbeiter und Sozialtherapeutinnen darauf zielen, die seelische, geistige und/oder körperliche Not ihrer Klientinnen und Klienten möglichst schnell und umgehend zu mildern oder sogar zu beheben, geht es dem Sozialkünstler auf einer epistemisch tiefer liegenden Ebene darum, die Not als Kunst in einem zeitintensiven Prozess zur Darstellung zu bringen.

Dieser ästhetischen Strategie liegt eine alte Philosophenidee zugrunde. Sie geht bis auf Platon zurück und besagt, dass die Erkenntnis selbst das eigentliche und wahre Movens von Veränderung sei. Übertragen auf die 2-3 Straßen bedeutet das: Die Teilnehmer kommen nicht als Sozialarbeiter, die immer schon wissen, was zu tun ist, in die Brennpunkte. Im Gegenteil. Sie kommen ohne vordefinierte Veränderungsziele. Sie wollen einfach zur Darstellung bzw. in die „Ausstellung“ bringen, was an Kreativitätspotentialen bei den Menschen vorhanden ist. Dieses Vorgehen birgt Chancen. Aber es enthält auch Risiken. Das hat sich im Laufe des Experiments gezeigt.

Bereits in den ersten Monaten wurde klar, dass das Schreibtool allein nicht ausreicht, um die Erkenntnis so weit zu treiben, dass sie von sich aus in Transformation umschlägt. Auch aus diesem Grund wurden die Teilnehmerinnen und Teilnehmer dann doch ermuntert, auf das gesamte Medienspektrum der Künste zurückzugreifen. Neben die von vielen als Belastung (von einigen aber durchaus auch als Bereicherung!) empfundenen täglichen Schreibrituale traten nun Fotoausstellungen, Musikabende, Haustheater, monatlicher Kaffeeklatsch, eine als Stadtteilzeitung inszenierte Wohnung, eine Weltbücherei, ein 2-3-Etagen-Weblog, ein Öko-Stadtführer, ein Gartenprojekt, eine Fahrradwerkstatt, Farbkunst an den Haustüren und vieles mehr.

Möglicherweise vollzog sich mit dieser Erweiterung des Medienkanons zugleich auch eine Erweiterung des Kunstverständnisses. Wenn individuelle und gemeinschaftliche Kreativität im Alltag gelebt wird, verändert das die Atmosphäre. Solchermaßen kreativ gelebte Kunst wird oft gar nicht mehr als Kunst wahrgenommen, sondern funktioniert unmittelbar als Medium der Bereicherung menschlicher Lebensverhältnisse. An die Stelle einer epistemischen Kunstauffassung ist eine pragmatische Praxis der Lebenskunst getreten.

Das führt mich zurück zum menschenfreundlichen Medienmantra von Jochen Gerz: „Ich glaube an eine Gesellschaft, in der die Menschen die Medien sind. Ich glaube nur an das menschliche Wesen als Medium (...).“4 Nimmt man diese Sätze ernst – und sie verdienen das! – dann stellt sich die Frage nach der Dienlichkeit der Kunst für den als Medium verstandenen Menschen. Auf Bali gibt es eine interessante Redensart. Sie lautet: „Wir haben keine Kunst. Wir machen alles so gut wie möglich.“ Sie ist mir immer wieder in Sinn gekommen, als ich die 2-3 Straßen besucht habe.

Als Kind des Potts weiß ich natürlich nur allzu gut, dass das Ruhrgebiet nicht mit Bali zu vergleichen ist. Deshalb sind gestalterische Experimente wie das von Jochen Gerz für das Revier ja auch so wertvoll. Gleichwohl bleibt für mich als Quintessenz der Eindruck, dass Gerz’ zukunftweisender Glaube an den Menschen als zentrales Medium der Gesellschaft sich in der gegenwärtigen kulturellen Situation nur sehr eingeschränkt als Kunst umsetzen lässt. Die authentische Dynamik, die ich während meines Besuchs in den 2-3 Straßen miterleben durfte, speist sich meines Erachtens nicht so sehr aus dem Gesamtkunstwerkcharakter des Ganzen. Sie stammt vielmehr aus den vielen kleinen Einzelkünsten, die von neuen und alten Mietern als Formen des Ausdrucks, der Darstellung, der Kommunikation und der selbstverantwortlichen Veränderung genutzt wurden und so dazu beitrugen, dass sich diese Menschen selbst als Medien wiederentdecken konnten.

Ich habe den Freiraum in vollen Zügen genossen, der meiner Heimatregion durch das soziale Kunstexperiment von Jochen Gerz eröffnet worden ist. Zugleich habe ich mich - ganz privat - daran erinnert, warum Mülheim und Duisburg für mich als kleiner Junge so wichtig waren. Es war nicht nur die Chance zu lernen, dass Nacktheit etwas Natürliches ist. Es war auch die Kontinuität. Als ich 8 Jahre alt war, sind meine Eltern mit mir von Essen-West nach Velbert umgezogen. Die Großeltern, die Tante, deren Hund Anka (der im Grunde meiner war), die Freunde, die Lehrerin, die Wohnung, der Park – dieses und vieles mehr blieb zurück in Essen-West.

Velbert bedeutete für mich Veränderung. Es war der Beginn einer langen Zeit des Nachdenkens. Aus heutiger Sicht würde ich sagen, die Notwendigkeit mit diesem Umzug umzugehen, war der frühe Beginn meiner Wanderung nach innen, in die Reflexion, in die Lust an der Erkenntnis und damit zugleich meiner Faszination für das Medium der Schrift, die ich mit Jochen Gerz teile. Duisburg und Mülheim aber bildeten den Gegenpol. Sie standen für die nackte Körperlichkeit des Spielens im Wald von Großenbaum und für die wilden Gerüche des „Balkan-Grills“, den wir nach dem Baden im Mülheimer Hallenbad abends immer besuchten. Ich bin dankbar dafür, dass das weite Kunstverständnis von 2-3 Straßen mir die Gelegenheit eröffnet hat, so weit zurückzuschauen.


[1] Zitiert aus: Hans-Werner Schmidt, „Biography“, Online-Fassung: www.gerz.fr (siehe Rubrik: „Press“); Druckfassung in: Jochen Gerz, Res Publica. The Public Works 1968-1999, #: Cantz 1999, S. 16-21.

[2] Hans-Werner Schmidt, „Biography“, Online-Fassung: www.gerz.fr (siehe Rubrik: „Press“); Druckfassung in: Jochen Gerz, Res Publica. The Public Works 1968-1999, Ostfildern: Hatje Cantz 1999, S. 16-21.

[3] „Die Gegenwartskunst ist gestrig geworden“, in: Art 2006, S. 54-57, hier: S. 54.

[4] Zitiert aus: Hans-Werner Schmidt, „Biography“, Online-Fassung: www.gerz.fr (siehe Rubrik: Press); Druckfassung in: Jochen Gerz, Res Publica. The Public Works 1968-1999, Ostfildern: Hatje Cantz 1999, S. 16-21.

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