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Quelle: http://www.sandbothe.net/51.html

Prof. Dr. Mike Sandbothe


erscheint in überarbeiteter Fassung in: Film/Denken. Der Beitrag der Philosophie zur aktuellen Debatte in den Film Studies, hrsg. von Ludwig Nagl, Eva Waniek und Brigitte Mayr, Wien: Synema 2004.

Mike Sandbothe

Filmphilosophie als Medienphilosophie

Pragmatische Überlegungen zu "The Matrix" und "Minority Report"

Der Beitrag des akademischen Lehrfachs der Philosophie zu aktuellen Debatten in den Film Studies hält sich bisher in Grenzen. Das liegt zum einen daran, daß die Thematisierung nicht nur des Films, sondern auch anderer technischer Verbreitungsmedien (wie Buchdruck, Radio, Fernsehen, Computer und Internet) innerhalb der philosophischen Lehre und Forschung noch keinen angemessenen Stellenwert erlangt hat. Zum anderen kommt erschwerend hinzu, daß sowohl in den Medien- und Kommunikationswissenschaften als auch in den Film- und Theaterwissenschaften lange Zeit wenig Interesse an philosophischen Grundlagenfragen bestanden hat.

Das ändert sich derzeit. Vor dem Hintergrund der Wandlungsdynamik, die sich mit der Digitalisierung und Globalisierung des Mediensystems verbindet, erlangt die begriffliche und methodische Grundlagenreflexion innerhalb der genannten Fachwissenschaften neue Relevanz. Angesichts dieses Sachverhalts steht die Philosophie vor der Alternative, entweder mit Angeboten zu reagieren oder die neue Nachfrage – etwa mit dem Hinweis, es handle sich dabei um „eine vorübergehende Sache“1 – nicht allzu ernst zu nehmen. Zugleich zeichnet sich innerhalb des philosophischen Fachdiskurses eine interne Tendenz zur Ausweitung erkenntnis- und rationalitätstheoretischer Fragestellungen ab. Während für das im Zeichen des linguistic turn stehende 20. Jahrhundert die Fixierung auf Sprache als ausgezeichnetem Medium rationaler Erkenntnis kennzeichnend war, treten zunehmend auch nichtsprachliche Medien (wie Bild, Schrift oder Musik) in den Fokus philosophischer Lehre und Forschung.2

Meine Überlegungen bestehen aus zwei Teilen. Der erste befaßt sich mit der aktuellen wissenschaftstheoretischen Debatte darüber, ob und wie sich Medienphilosophie als akademische Disziplin institutionalisieren läßt und was daraus für das philosophische Selbstverständnis folgt. Im zweiten Teil sage ich auf dieser Basis ein paar grundlegende Dinge über Filmphilosophie als medienphilosophischer Teildisziplin und beziehe mich dabei auf die Filme „The Matrix“ und „Minority Report“.

Medienphilosophie als wissenschaftliche Fachdisziplin

Im Januar 2003 ist unter dem Titel Medienphilosophie. Beiträge zur Klärung eines Begriffs ein von mir mitherausgegebener Sammelband erschienen. In programmatischen Beiträgen antworten darin 12 Autorinnen und Autoren auf die Frage: Was ist Medienphilosophie? Der Verfasser der ersten Programmschrift, Martin Seel, schreibt: „Medienphilosophie ist eine vorübergehende, aber dennoch eine gute Sache. (...). Sie ist keine neue Disziplin neben den anderen Disziplinen, sondern vielmehr ein Renovierungsunternehmen, das, wenn es seine Sache gut macht, nicht allzu lang in Anspruch genommen werden muss. Diese begrenzte Mission hängt damit zusammen, dass die Medienphilosophie keinen eigenen Gegenstand hat. Was sie ins Spiel bringt, ist ein veränderter Blick.“3 Natürlich fragt man sich, wie Seel auf die Idee kommt, dass die Medienphilosophie keinen eigenen Gegenstand habe. Schließlich ist der Gegenstand dieser Sorte von Philosophie doch gleich im Titel mit angegeben: die Medien. Aber Philosophen wären keine, wenn sie die Dinge so einfach nähmen.

„Medienphilosophie hat es nicht mit Medien zu tun“4 lautet daher auch die Grundthese von Stefan Münker. Er hat den zweiten Readerbeitrag verfaßt und fährt erklärend fort: „Der Gegenstand der Medienphilosophie sind nicht die Medien selber, sondern (gewiß: sowohl durch Medien evozierte als auch wiederum medial artikulierte) philosophische Probleme.“5 Noch vertrakter wird die Lage bei Elena Esposito, von der die dritte Programmschrift stammt. Sie schreibt: „Ausgangspunkt dieses Bandes ist die Feststellung, dass es [bisher – M.S.] keine Medienphilosophie gibt. Ich werde die These vertreten, dass es keine geben kann (...).“6 Esposito zufolge müßte die Philosophie sich in Psychologie oder Soziologie verwandeln, wenn sie sich ernsthaft auf die Medien einlassen wollte. Denn die kontemplative Grundhaltung und theoretische Distanz, die für das Fach Philosophie als einer schriftbasierten Disziplin kennzeichnend sein soll, werde durch die elektronischen und digitalen Medien in Frage gestellt.

Mit Blick auf Seel und Münker macht diese Argumentation rückblickend klar, warum die beiden sich die Finger an dem so naheliegenden Gegenstand der Medienphilosophie nicht schmutzig machen wollten. Die neuen Medien bedrohen die Reinheit des philosophischen Denkens. Genau deshalb rät Seel auch dazu, Medienphilosophie nicht als neue Disziplin, sondern nur als Renovierungsunternehmen für die bereits bestehenden Fachabteilungen zu konzipieren. Medienphilosophinnen und Medienphilosophen erscheinen in diesem Bild als Handwerkerinnen und Maler, die das Haus der Philosophie in möglichst kurzer Zeit ein wenig nachbessern sollen. Die Zimmer in diesem Haus sind bereits vergeben und zwar an die verschiedenen philosophischen Abteilungen der praktischen und der theoretischen Philosophie, zu denen vor allem Ethik, Ästhetik, Logik und Wissenschaftstheorie gehören. Der Unterschied zwischen Seel und Münker besteht darin, dass Münker zusammen mit Alexander Roesler, von dem die vierte Programmschrift stammt, die Ansicht vertritt, dass die Medienphilosophen als Lohn für ihre Arbeit durchaus ein eigenes Zimmer verdienen; während Seel die Renovierung am liebsten gleich selbst durchführen würde bzw. heilfroh ist, wenn er die Handwerker nach getaner Arbeit möglichst schnell wieder los wird.

Die von Esposito beschworene und von Seel und Münker durch Ausklammerung der Medien erfolgreich verdrängte Entgrenzungsgefahr wird von Lorenz Engell, der den fünften Beitrag zum Medienphilosophie-Reader geschrieben hat, erheblich dialektischer beurteilt. Seine Grundthese lautet: „Medien-Philosophie ist (...) ein Geschehen, möglicherweise eine Praxis, und zwar eine der Medien. Sie wartet nicht auf den Philosophen, um geschrieben zu werden. Sie findet immer schon statt, und zwar in den Medien und durch die Medien.“7 Das aber, so weiter Engell, schließe keinesfalls aus, dass „die philosophische Praxis der Medien“8 sich zugleich mit den Mitteln der „Philosophen-Philosophie“9 beschreiben, d.h. in schriftbasierte Reflexion übersetzen läßt. Genau diese Ansicht vertritt auch die Autorin der sechsten Programmschrift: Sybille Krämer. Die Aufgabenstellung einer als Medienphilosophie auszuweisenden Form genuin philosophischer Reflexion beschreibt sie wie folgt: „In einer medientheoretischen Perspektive (...) kommen die nichtsinnhaften, materialen Bedingungen der Entstehung von Sinn, die stummen, prä-signifikativen Prozeduren der Signifikation, die ‚Nahtstelle‘ von Sinn/Nicht-Sinn in den Blick.“10

Die akademische Identität des Lehrfachs Philosophie wird in der Moderne durch die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Sinn definiert. Dabei handelt es sich dem philosophischen Selbstverständnis zufolge um ein Forschungsthema, das den Gegenständen aller anderen Wissenschaften vorausgelagert ist, insofern diese in gegenstandsbezogener Einstellung die Konstitution bzw. das Konstitutiertsein von Sinn je schon in Anspruch nehmen. Engell und Krämer legen nun der modernen Philosophie nahe, dass es gerade dann, wenn man sich mit den Konstitutionsbedingungen von Sinn befaßt, einen ausgezeichneten Gegenstand zu berücksichtigen gilt: nämlich die Medien. Philosophinnen und Philosophen, die sich auf die Medien einlassen, wären demnach keinesfalls – wie Esposito glaubt – gezwungen, das Haus der Philosophie zu verlassen, sondern würden dieses Haus vielmehr weiter ausbauen und das Projekt der modernen Philosophie architektonisch bereichern.

Der Weg dorthin jedoch ist Barbara Becker, Matthias Vogel, Frank Hartmann, Reinhard Margreiter und Stefan Weber zufolge noch weit. Bei ihnen handelt es sich (zusammen mit mir) um die in der Chronologie noch verbleibenden Autorinnen und Autoren des herangezogenen Sammelbands. Gemeinsam ist ihnen, dass sie mit jeweils unterschiedlichen Mitteln den Weg zu skizzieren versuchen, den es zu beschreiten gilt, wenn man Medienphilosophie als wissenschaftliche Disziplin etablieren möchte. Am weitesten gehen dabei Barbara Becker und Stefan Weber. Sie stellen sich nämlich die Frage, welche Dienstleistungsfunktion eine systematisch ausgebildetete Medienphilosophie im Rahmen der Medienwissenschaften einmal übernehmen könnte. Die transdisziplinäre Aufgabenbestimmung von Medienphilosophie, die sie geben, besteht dabei nicht allein in der begrifflichen Präzisierung und historischen Einbettung medienwissenschaftlicher Fachdiskurse, sondern auch und vor allem im „Projekt einer philosophisch fundierten Medienkritik.“11

Matthias Vogel ist da zurückhaltender. Mit Recht weist er darauf hin, dass die Medienphilosophie bislang weit davon entfernt ist, „ein auch nur annäherungsweise vergleichbares Ausarbeitungsniveau aufweisen zu können, wie etablierte philosophische Disziplinen.“12 Während Vogel Vorschläge macht, wie sich das durch eine begrifflich strenge Definition des Medienbegriffs verändern liesse, plädiert Frank Hartmann für eine disziplinär ungebundene und zugleich außerakademisch operierende Medienphilosophie. Mit seinen Überlegungen schließt er an denjenigen Aspekt von Engells Beitrag an, der sich auf die philosophische Praxis der neuen Medien bezieht. Der Unterschied zwischen den beiden besteht darin, dass Engell die implizite Medienphilosophie der Praktiker scharf von der expliziten Medienphilosophie der Theoretiker trennt, während Hartmann beides in eins zu denken versucht, um zu schauen, was von der Philosophen-Philosophie dann noch übrig bleibt.

Den intellektuellen Stachel, durch den Hartmanns Experimentierlust angetrieben wird, bringt Reinhard Margreiter aus theoretischer Perspektive auf den Punkt, wenn er in seinem Beitrag darüber nachdenkt, „ob unter den Bedingungen der Neuen Medien (...) eine problemlose Kontinuität (...) traditionellen Philosophierens möglich (...) ist.“13 Diese Frage ergibt sich, wenn man die Medien nicht nur als Bedingungen der Möglichkeit alles alltäglichen und fachwissenschaftlichen Wissens, sondern auch als Bedingungen der Möglichkeit des philosophischen Diskurses selbst begreift. Eben das tut Margreiter, wenn er herausstellt: „Der philosophisch-wissenschaftliche Diskurs beginnt historisch als ein Unternehmen der Schrift, wird später ein Unternehmen des Buchdrucks und tritt mit den Neuen Medien wiederum in eine neue historische Phase.“14 Eine Medienphilosophie, die diesen Zusammenhang an zentraler Stelle berücksichtigen würde, wäre damit zugleich eine Art Metaphilosophie, d.h. eine philosophische Reflexion über die Frage, was Philosophie selbst sein kann und sein soll.

Diese Frage habe ich in meinem Buch Pragmatische Medienphilosophie zum Ausgangspunkt meiner Überlegungen gemacht.15 Ähnlich wie Margreiter geht es auch mir darum, „die Kontinuitätsthese verstärkt in die Diskussion einzubringen.“16 Aber im Unterschied zu ihm plädiere ich für die Wiederherstellung eines weitgefaßten Philosophieverständnisses. Damit meine ich diejenige Form philosophischer Praxis, die vor der akademischen Ausdifferenzierung der geisteswissenschaftlichen Fächerkulturen mehr oder weniger üblich war. Diese Praxis tritt hervor, wenn man das professionelle Selbstverständnis der modernen Fachphilosophie mit dem doppelgleisigen Philosophiebegriff vergleicht, der bereits von Aristoteles formuliert und von Kant weiter ausbuchstabiert worden ist.

Aristoteles und Kant haben (auf je unterschiedliche Weise) zwischen zwei Sorten von Philosophie unterschieden: der theoretischen und der praktischen (bzw. der reinen und der empirischen). Die theoretische (bzw. reine) Philosophie ist kontemplativ und der Erkenntnis der Wahrheit bzw. ihrer Möglichkeitsbedingungen verpflichtet. Sie richtet sich in fachterminologischem Diskurs an die Schule. Die praktische (bzw. empirische) Philosophie ist transformativ und der gesellschaftlichen Nützlichkeit verpflichtet. Sie wendet sich in verständlicher Sprache an die Welt.

Während sowohl zu Aristoteles‘ als auch zu Kants Zeiten das Gleichgewicht zwischen theoretischer und praktischer Philosophie einigermaßen gut ausbalanciert war, haben sich die Verhältnisse im Laufe des 19. und 20. Jahrhundert einseitig zugunsten der theoretischen Philosophie verschoben. Das hat im Fortgang dazu geführt, dass Fragen der praktischen Philosophie heute zumeist nur noch in Termini der theoretischen Philosophie (z.B. als Probleme ethischer Moralbegründung) formuliert werden. Vor einer solchen Engführung aber hatte bereits Aristoteles in seiner Nikomachischen Ethik gewarnt. Gleich zu Beginn dieser antiken Grundschrift der praktischen Philosophie steht zu lesen: „Der Teil der Philosophie, mit dem wir es hier [also in der Nikomachischen Ethik – M.S.] zu tun haben, ist nicht wie die anderen rein theoretisch – wir philosophieren nämlich nicht, um zu erfahren, was ethische Werthaftigkeit sei, sondern um wertvolle Menschen zu werden.“17

Das ist fraglos ein großes Wort gelassen ausgesprochen. Es enthält den Grundgedanken des philosophischen Pragmatismus und beschreibt zugleich die soziopolitische Grundorientierung derjenigen Form von praktischer Philosophie, die innerhalb der von mir vertretenen pragmatischen Medienphilosophie neben der theoretischen Philosophie als mindestens gleichberechtige Sorte von Philosophie firmiert. Mit Blick auf die Aufgabenbestimmung von Medienphilosophie bedeutet das, dass ich sowohl einen integrativen als auch einen additiven Ansatz vertrete. Integrativ ist die pragmatische Medienphilosophie, insofern sie für die enge Vernetzung von fachphilosophischen, medienwissenschaftlichen und medienpraktischen Fragestellungen plädiert. Additiv ist sie, insofern sie sich bezüglich des Vernetzungsmodus für ein „sowohl-als-auch“, d.h. eine Gleichberechtigung und parallele Durchführung stärker praktisch und stärker theoretisch orientierter Vernetzungsstrategien ausspricht.

Die von Krämer, Engell, Margreiter u.a. favorisierte Fokussierung auf eine schulphilosophisch professionalisierte Medienphilosophie als theoretischen Ideengeber für Medienwissenschaft und Medienpraxis realisiert das Anliegen der theoretischen Philosophie. Sie geht von philosophieinternen Entwicklungen aus und schaut dann, ob diese möglicherweise auch außerhalb der Schulphilosophie auf fruchtbaren Boden fallen. Am Anfang stehen dabei nicht praktische Fragen der Medienpolitik und Mediengestaltung, sondern eine Liste philosophischer Lehrbuchprobleme, die unter Berücksichtigung der grundlegenden Medialität unseres Wirklichkeitsbezugs auf neue Weise thematisiert werden. Im Unterschied dazu schlagen Becker, Weber und Hartmann einen Vernetzungsmodus vor, der stärker an den Einzelmedien orientiert ist. Dieser geht von der Welt, d.h. von einer sich immer mehr globalisierenden Medienpraxis und den mit dieser verbundenden politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Problemen aus. Medienwissenschaft und Fachphilosophie dienen dabei als Werkzeugkisten, in denen nach Instrumenten gesucht wird, die zur Lösung der wissenschaftsextern vorgefundenen Medienprobleme beitragen können.

Reduziert man diese Probleme nicht – wie heute weithin üblich – auf Fragen kurzfristiger betriebswirtschaftlicher Gewinnmaximierung, sondern faßt sie statt dessen mit Aristoteles als Probleme der Realisierung eines guten Lebens unter demokratischen Gesellschaftsbedingungen, dann handelt es sich hier um das Grundanliegen praktischer Philosophie im ursprünglichen Verstande. Das Eigenrecht beider Philosophiesorten im Sinn eines forschungsökologischen Gleichgewichts zu verteidigen, ist das Ziel der pragmatischen Medienphilosophie. Sie plädiert dafür, sowohl den von Krämer, Engell und Margreiter als auch den von Becker, Weber und Hartmann skizzierten Weg zu beschreiten. Wie das konkret aussehen könnte, möchte ich nun im zweiten Teil meiner Überlegungen am Beispiel der Filmphilosophie vor Augen führen.

Ein additives Konzept pragmatischer Filmphilosophie

In einem Aufsatz mit dem Titel „Ansätze zu einer (noch ausstehenden) Philosophie des Films“ hat Ludwig Nagl 1999 Gilles Deleuze und Stanley Cavell als die beiden Pole der modernen Filmphilosophie beschrieben. Ich zitiere: „Wie sich dieser Gedanke [von] Deleuze (der das Cinematische als ‚Vorschein‘ einer (...) ‚Göttlichkeit‘ bestimmt) mit Cavells Theorie, das Kino (...) als Medium des „moral perfectionism“ zu denken, vereinigen läßt: das, u.a., umreißt den Frageraum, in dem sich die (noch ausstehende) Ästhetik des Films (...) heute situieren muß.“18 Die doppelte Aufgabe, die der Filmphilosophie zukommt, wird in diesem Zitat von Nagl im impliziten Rekurs auf die aristotelische Unterscheidung von theoretischer und praktischer Philosophie bestimmt. Der theoretischen Filmphilosophie geht es um die postreligiöse Erfahrung des epistemologischen Bruchs, der sich auf der formal-ästhetischen Ebene im Sehen der bewegten Bilder ereignen kann. Im Zentrum der praktischen Filmphilosophie steht demgegenüber die moralische Bildungskraft der mit filmischen Mitteln erzählten Geschichten. Darin, beides miteinander zu vereinigen, besteht Nagl zufolge die Herausforderung, vor der die zeitgenössische Filmphilosophie heute steht.

Auf diese Herausforderung möchte ich mit Hilfe des additiven Modells zu reagieren versuchen, das ich am Ende des ersten Teils meiner Ausführungen erwähnt habe. Dabei ist es hilfreich, sich zunächst einmal klar zu machen, wie sich das Verhältnis von praktischer und theoretischer Philosophie in der medialen Logik des Films darstellt. Meine These dazu lautet: Während in der schriftbasierten Philosophen-Philosophie des 19. und 20. Jahrhunderts die theoretische Philosophie die praktische dominiert, ist es im Bereich der philosophischen Filmpraxis genau andersherum. Die den audiovisuellen Medien insgesamt eigene Logik der bildlichen Konkretion und der wahrnehmbaren Situierung von Sachverhalten in relevanten Kontexten führt auch im Medium des Films zu einem spezifischen Vorrang des Praktischen vor dem Theoretischen.

Das hat Folgen für die Umsetzung des additiven Modells der pragmatischen Medienphilosophie im Bereich der Filmphilosophie. Diese Folgen möchte ich exemplarisch anhand der internen Filmphilosophie deutlich machen, die von Filmemachern im Medium des Films artikuliert wird. Um dabei zugleich die Frage mitthematisieren zu können, wie die interne Filmphilosophie sich zur externen Perspektive der Philosophen-Philosophie ins Verhältnis setzt, habe ich zwei Filme ausgewählt, in deren Zentrum jeweils theoretische Lehrbuchfragen der amtlichen Philosophie stehen. Ich meine die Fragen „Was ist Wirklichkeit?“ und „Was ist Zeit?“ und die beiden Filme The Matrix (1999) und Minority Report (2002).

Dass es sich dabei um Science-Fiction-Filme handelt, ist kein Zufall. Um rein theoretische Fragen wie die nach der Wirklichkeit der Wirklichkeit oder nach dem Wesen der Zeit im Medium des Films als praktisch relevant erscheinen zu lassen, bedarf es der Antizipation einer zukünftigen Welt. Denn in der Welt, in der wir heute leben, tauchen theoretische Spekulationen über Zeit und Wirklichkeit eher als Prüfungsfragen in philosophischen Seminaren denn als Probleme öffentlicher Politik auf. Das ist in den antizipierten Welten von The Matrix und Minority Report anders.

So wird die Frage nach der Wirklichkeit der Wirklichkeit in Andy und Larry Wachowskis The Matrix zum Anlaß für die Gründung einer subversiven politischen Gruppierung, deren Chef der berühmte Hacker Morpheus ist. Das Ziel von Morpheus und seinen Leuten besteht darin, die Wirklichkeit derjenigen Welt, die von der Mehrheit der Menschen als real erlebt wird, nicht nur theoretisch in Frage zu stellen, sondern unter Einsatz aller zur Verfügung stehenden technischen und militärischen Mittel auch praktisch-politisch zu durchbrechen.

In Steven Spielbergs Minority Report ist es nicht nur eine politische Minderheit, sondern die amerikanische Regierung selbst, für deren Sicherheitspolitik die praktischen Konsequenzen einer scheinbar rein philosophischen Frage ins Zentrum des Interesses rücken. In seinem neuen Film befaßt sich Spielberg mit einer fiktiven Medientechnologie namens „Pre-Crime“. Durch sogenannte „Pre-Cogs“, bei denen es sich um als technische Medien fungierende Menschen handelt, wird es möglich, die zeitliche Dimension der Zukunft so exakt vorherzusagen, dass sich geplante Verbrechen (noch bevor sie geschehen können) durch polizeilichen Eingriff verhindern lassen.

In meiner Analyse der in diesen Filmen artikulierten Philosophie gehe ich so vor, dass ich zunächst die Frage untersuche, welchen Beitrag The Matrix und Minority Report zur theoretischen Philosophie leisten. In einem zweiten Schritt wende ich mich dann der Frage zu, ob die Wachowski-Brüder und Spielberg, indem sie ausgewählte Lehrbuchprobleme der theoretischen Philosophie als praktisch relevant erscheinen lassen, zugleich einen Beitrag zur praktischen Philosophie im aristotelischen Sinn leisten. Ich beginne mit dem ersten Schritt:

In beiden Filmen geht es um die Frage, ob der Mensch selbst ein technisch manipulierbares Medium sein kann bzw. sein darf. In Minority Report sind es die drei Pre-Cogs Agatha, Arthur und Dashiell, in Bezug auf die sich dieses Problem stellt. Bei ihnen handelt es sich um Kinder drogensüchtiger Eltern. Diese Kinder haben aufgrund einer mißglückten gentechnologischen Behandlung ihrer Eltern auf unerwartete Weise die Fähigkeit erlangt, zukünftige Morde vorauszusehen. Die Patentinhaberin, Dr. Iris Hineman, und ihr Kollege Lamar Burgess haben die darin liegenden Möglichkeiten für die Verbrechensbekämpfung erkannt und kommerziell umgesetzt. Zu diesem Zweck sind die drei Kinder aus ihrem sozialen Umfeld herausgelöst und als Pre-Cognitives in eine technische Apparatur eingebettet worden, innerhalb derer sie als „Mustererkennungsfelder“ funktionieren. Die technische Apparatur befindet sich im Pre-Crime-Department von Washington D.C. und sorgt dafür, dass die Alpträume der Pre-Cogs von den Mitarbeitern des Departments live mitgeschnitten und zur präventiven Verbrechensbekämpfung eingesetzt werden können.

In The Matrix ist es nicht nur eine kleine Gruppe ausgewählter Pre-Cognitives, sondern die gesamte Menschheit, die von ihrer realen Gegenwartserfahrung abgelöst wurde. Die Körper der Menschen schwimmen (wie die Körper der Pre-Cogs) in speziellen Tanks, die sie von realen Außeneindrücken abschirmen. Über eine digitale Schnittstelle, die ihr Rückenmark via Halswirbelsäule direkt mit der Matrix verbindet, sind sie wie Computer in eine virtuelle Welt eingeloggt, die sie für real halten, weil sie von der technischen Installation, die das alles ermöglicht, nichts wissen. Dieses totalitäre Szenario der technologischen Immersion läßt sich als perfekte Zuspitzung der Mensch-Medien-Experimente verstehen, um die es in Minority Report geht.

Spielberg datiert die Welt seines Films auf das Jahr 2054. Die Wachowskis lassen uns von Morpheus darüber in Kenntnis setzen, dass die Welt der Matrix, in der die Menschen zu leben glauben, zwar das Jahr 1999 verzeichnet, es sich dabei aber um ein Vergangenheitsprogramm handelt, mit dem die in den Tanks schwimmenden Körper bespielt werden. Über das reale Geschehen auf Hardware-Ebene, in dessen Verlauf der Held des Films, Neo, aus seinem Tank befreit wird und zusammen mit Morpheus und seinen Leuten in den Abwasserkanälen einer von Robotern beherrschten Welt unterwegs ist, erfahren wir nur, dass es vermutlich ca. 200 Jahre später stattfindet als die virtuelle Zeit, die den Körpern im Tank durch das Softwareprogramm suggeriert wird.

Bereits die Darstellung der raumzeitlichen Kontexte sowie der Rahmenerzählung macht deutlich, wie eng in beiden Filmen die Frage nach den Mensch-Medien mit den philosophischen Leitfragen „Was ist Wirklichkeit?“ und „Was ist Zeit?“ verbunden ist. In dieser engen Verknüpfung besteht zugleich die Grundaussage, die Spielberg und die Wachowski-Brüder in Sachen theoretischer Medienphilosophie artikulieren. Die Filmemacher spitzen den im ersten Teil entwickelten Gedanken von Engell, Krämer und Margreiter dahingehend zu, dass sie zeigen, wie die Thematisierung des Menschen selbst als Gegenstand medialer Technisierung die Frage nach dem Medium zum Herzstück der theoretischen Philosophie werden läßt. Die Grundfragen der modernen Philosophie nach den Bedingungen der Möglichkeit von Welt, Wahrheit und Wirklichkeit erscheinen bei Spielberg und den Wachowskis nicht länger als Fragen, die auch eine mediale Komponente haben, sondern vielmehr als Fragen, die sich einzig und allein im Rekurs auf das Medium Mensch und seine Hard- und Softwarestrukturen beantworten lassen.

Soweit der erste Schritt meiner Analyse der internen Filmphilosophie der beiden Produktionen. Ich komme nun zum zweiten Schritt und damit zum soziopolitischen Anliegen der im aristotelischen Sinn verstandenen praktischen Philosophie. Mit Blick auf Nagl formuliert, lautet die nun zu behandelnde Frage: Leisten die bisher herausgearbeiteten deleuzianisch-theoretischen Aspekte von The Matrix und Minority Report zugleich auch einen Beitrag zu dem von Cavell skizzierten Projekt eines filmphilosophischen moral perfectionism? Oder aber verhält es sich statt dessen vielmehr so, dass die beiden filmphilosophischen Produktionen nur auf praktisch besonders anschauliche Art und Weise theoretisch zu denken geben, ohne dabei die Zuschauerinnen und Zuschauer zugleich auch zu wertvolleren Menschen zu machen?

Die moralisch-praktische Veränderungskraft von Filmen manifestiert sich bei verschiedenen Menschen unterschiedlich. Gleichwohl aber läßt sich in allgemeiner Hinsicht sagen, dass der transformative Inspirationswert von Filmen unterschiedliche Ausgestaltungen erfahren kann. So gibt es Filme, die unsere Autonomie fördern und Filme, die uns helfen, weniger grausam zu werden. Letzteres - die Verringerung von Grausamkeit in unserem Verhalten - können Filme entweder dadurch erreichen, daß sie uns darin unterstützen, die Wirkungen sozialer Verhaltensweisen und Institutionen zu durchschauen oder indem sie uns dabei helfen, die Wirkungen unserer privaten Idiosynkrasien auf andere Menschen zu erkennen. Filme, die beides in einem realisieren, sind selten, aber aus der Perspektive praktischer Philosophie natürlich besonders wertvoll und wichtig.

The Matrix und Minority Report ist gemeinsam, dass sie die Frage nach den privaten Vokabularen ihrer Helden, d.h. nach deren individueller Selbstentfaltung und privater Autonomie eng mit dem technopolitischen Horrorszenario des medientechnischen Überwachungsstaates verzahnen. Das private Problem des von Keanu Reeves gespielten Matrix-Helden besteht darin, dass es ihm nicht gelingt, die beiden Vokabulare, die er zur Beschreibung seiner selbst verwendet, sinnvoll aufeinander zu beziehen. Die vergeblichen Versuche, seine Hackeridentität als Neo zu seiner bürgerlichen Existenz als Software-Programmierer Thomas Anderson ins Verhältnis zu setzen, sind in der Dramaturgie des Films eng mit der technopolitischen Leitfrage verwoben, ob das öffentliche Vokabular der gesamten Menschheit eine Welt beschreibt, die real ist oder das Konstrukt eines externen Überwachungssystems. Neos privates Glück wird auf diesem Weg mit der für die Zukunft der Menschheit entscheidenden Frage verschmolzen, ob er als Neo „der Auserwählte“ ist, der die Menschen aus ihrem virtuellen Gefängnis befreien kann, oder ob er sich als Thomas Anderson mit seiner bürgerlichen Existenz arrangiert.

Eine ähnliche Symbiose von privaten und öffentlichen Problemen findet sich in Minority Report. John Anderton, der von Tom Cruise gespielte Chief Detective der Pre-Crime-Abteilung der Washingtoner Polizei, überidentifiziert sich mit seinem Job, weil sein eigener Sohn kurz vor Inbetriebnahme der neuen Zukunftsüberwachungsstechnologie von einem Entführer ermordet worden ist. Ähnlich wie Reeves in The Matrix spielt auch Cruise einen Menschen, dessen privates Trauma auf’s engste mit dem Schicksal der Gesellschaft verknüpft wird, in der er lebt. So hängt die politische Entscheidung über die Frage, ob die neue Technologie, deren Anwendung im Rahmen einer sechsjährigen Testphase bisher auf Washington beschränkt war, in Zukunft als National Pre-Crime amerikaweit eingesetzt werden darf, im Film davon ab, ob Anderton den vermeintlichen Entführer seines Sohnes, den er gemäß Vorhersage der Pre-Cogs töten wird, tatsächlich ermordet oder nicht. Die prognostische Perfektion des Pre-Crime-Systems wäre widerlegt, wenn er von dem Wissen, das er von der eigenen Zukunft hat, derart Gebrauch machen könnte, dass sich die Möglichkeit einer alternativen Zukunftsgestaltung eröffnet.

Angesichts der filmischen Thematisierung sowohl von Problemen der privaten Selbsterschaffung als auch von Fragen der öffentlichen Solidarität ist aus der Perspektive praktischer Philosophie zu konstatieren, dass The Matrix und Minority Report damit durchaus die zentralen Themenfelder ansprechen, aus denen die persönliche Inspirationskraft und der soziopolitische Bildungswert von Filmen resultieren können. Die symbiotischen Zusammenhänge jedoch, die von den Wachowskis und von Spielberg zwischen dem Streben nach privater Vollkommenheit und dem Sinn für Gemeinschaft hergestellt werden, führen im Ergebnis zu einer eher negativen Einschätzung. Zwar steht außer Frage, dass eine solche Koinzidenz im Einzelfall durchaus möglich ist. Aber die zentrale Errungenschaft der demokratischen Gesellschaften, die sich in der Moderne entwickelt haben und derzeit globalisieren, besteht gerade in einer gegenteiligen Akzentsetzung. Die bewußte Trennung von privaten Vorlieben und gesellschaftlichen Zielen gehört zu den soziopsychologischen Grundlagen von Liberalität, Toleranz und Gesprächsbereitschaft.

Was das für die theoretische Philosophie bedeutet, hat bereits Aristoteles vor dem Hintergrund der frühen Form von Demokratie hervorgehoben, die für die antike Polis kennzeichnend war. Die private Lust an der reinen Theoria als höchste Form individuellen Glücks ist dem zehnten Buch der Nikomachischen Ethik zufolge „übermenschlich“19 in dem Sinn, dass sie sich nicht gesellschaftlich auf Dauer stellen und kontinuierlich leben, sondern nur individuell und in ausgezeichneten Augenblicken erleben läßt. Das Grundproblem beider Filme besteht darin, dass sie – indem sie versuchen, Grundfragen der theoretischen Philosophie praktisch relevant erscheinen zu lassen – zugleich die philosophische Medientheorie zur Grundlage einer Revolution der politischen Lebensform erheben. Die zentrale Funktion der in den beiden Filmen enthaltenen theoretischen Philosophie liegt darin, ihren Helden die Koinzidenz zwischen privater Idiosynkrasie und öffentlicher Solidarität durch eine einheitliche Vision zu ermöglichen.

Im Fall von Thomas Anderson alias Neo besteht diese Vision nicht nur im Wissen um die medienphilosophische Wahrheit, dass die Menschen, die in der Matrix leben, ein Leben im Falschen führen, sondern darüber hinaus in der zunehmenden Gewißheit, dass er und kein anderer von einer äußeren Macht dazu auserwählt worden ist, sie von ihrer Verblendung zu erlösen. Im Fall von John Anderton besteht die medienphilosophische Vision, die Privates und Öffentliches vereint, darin, dass Pre-Crime unter Andertons Leitung eine Welt ohne Mord ermöglichen soll, in der das, was sein eigenes Trauma ausgelöst hat – der Mord an seinem Sohn – für alle Zukunft verhindert werden kann.

Insofern kann man sagen, dass beide Filme versuchen, die private Lust der theoretischen Einsicht auf Dauer zu stellen und auf ihrer Grundlage eine neue gesellschaftliche Lebensform zu errichten. Die theoretische Philosophie wird von den Wachowski-Brüdern und von Spielberg nicht nur als praktisch relevant inszeniert, sondern darüber hinaus auch als Blaupause eines neu zu entwerfenden gesellschaftlich-politischen Lebens präsentiert. Die metaphilosophische Message der untersuchten Produktionen besteht demnach nicht in der zurückhaltenden Addition von Aspekten praktischer und theoretischer Philosophie, sondern in dem bereits von Aristoteles problematisierten Versuch ihrer postreligiösen Integration. Ein wichtiger Unterschied zwischen The Matrix und Minority Report, auf den ich abschließend noch kurz zu sprechen kommen möchte, liegt in der Bewertung, welche die theoretischen Vereinigungsvisionen, die in beiden Filmen zu praktischen Handlungsmaximen werden, am Ende erfahren.

Der Showdown von The Matrix besteht in einem doppelten Gewaltexzeß. Innerhalb der virtuellen Welt ist Morpheus von intelligenten Agentenprogrammen gefangen genommen worden. Diese sehen aus wie Menschen, sind aber in Wirklichkeit nichts anderes als Softwareprogramme, die von den die reale Welt beherrschenden Robotern innerhalb der Matrix eingesetzt werden, um den politischen Widerstand von Morpheus und seiner Gruppe zu brechen. Neo, der von Morpheus gelernt hat, dass sich in der Matrix prinzipiell hinter jedem Menschen ein Agent verbergen kann, beweist sich selbst und seinen Freunden seinen Status als Auserwählter, indem er Morpheus aus der Gefangenschaft befreit. Zu diesem Zweck bewaffnet er sich bis an die Zähne mit Maschinenpistolen, Handgranaten und Feuerwerfern und exekutiert die gesamte Zentrale des von Agenten geleiteteten Polizei-Departments.

Die terroristische Kriegsszene gleicht dem Ablauf eines Computerprogramms. Gewalt wird als Spiel, Wirklichkeit als Simulation erfahrbar. Und genau in dieser Erfahrung liegt der Logik des Films zufolge die visionäre Einheit von theoretischer Erkenntnis und praktischer Weisheit, die Neo zum Auserwählten macht. Sie kommt zu sich selbst, wenn Neo auf der zweiten Ebene des Gewaltprogramms, durch dessen Absolvierung er zum Auserwählten wird, nicht nur die interne Logik der militärischen Software, die er bedient, perfekt beherrscht, sondern die Software als Software wahrzunehmen lernt. Neo erlangt den digitalen Blick. Er sieht seine Gegner als Datenstrom und beginnt mit den tödlichen Agentenprogrammen auf der Ebene der Programmiersprache wie mit Codes zu spielen, die man durch einen einfachen Befehl löschen kann. So gelingt es ihm, Morpheus zu befreien und sich selbst als Auserwählten zu konstituieren, der in der Schlußszene wie Superman vom Boden der virtuellen Realität abhebt und sich innerhalb der Matrix über eine Gesellschaft erhebt, die aus seiner Sicht nur noch aus digitalen Bits und Bytes besteht.

Ganz anders das Ende von Minority Report. John Anderton, der sich durch die Überidentifikation mit Pre-Crime von seiner Frau entfremdet und ein abgehobenes Leben als drogensüchtiger SuperCop geführt hatte, findet am Ende des Films den Weg „down to earth“. Er durchschaut die Fehleranfälligkeit des vermeintlich perfekten Systems, befreit die Pre-Cogs aus ihren Tanks, findet den Weg zurück zu seiner Frau und überwindet mit ihr gemeinsam das Trauma, das der Tod ihres Sohnes bei ihnen ausgelöst hatte, indem sie es wagen, zusammen erneut ein Kind zu haben. Fraglos übertreibt Spielberg mit diesem Happy End die Idylle ein wenig. Das kommt nicht zuletzt darin zum Ausdruck, dass die von der zwanghaften Zukunftsantizipation befreiten Pre-Cogs in der Schluss-Szene des Films in einer herrlichen Seenlandschaft gezeigt werden, wo sie wie glückliche Geschwister, die gemeinsam Ferien machen, in einer Hütte am Kamin sitzen und alte Bücher lesen. Aber trotz dieser Übertreibung, die das Medium des gedruckten Buchs allzu einseitig gegen die bedrohliche Welt des Digitalen ausspielt, liegt in der therapeutischen Entzerrung von privater Idiosynkrasie und öffentlicher Welt, von theoretischer Medienphilosophie und praktischer Politik die moralische Pointe, die Spielbergs Film gegenüber der Wachowski-Produktion positiv auszeichnet.


1 Martin Seel, „Eine vorübergehende Sache“, in: Medienphilosophie. Beiträge zur Klärung eines Begriffs, hrsg. von Alexander Roesler, Stefan Münker und Mike Sandbothe, Frankfurt a.M.: Fischer 2003, S. 10-15.

2 Vgl. hierzu insbesondere Matthias Vogel, Medien der Vernunft. Eine Theorie des Geistes und der Rationalität auf Grundlage einer Theorie der Medien, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001 sowie Systematische Medienphilosophie, hrsg. von Ludwig Nagl und Mike Sandbothe, Berlin: Akademie 2003 (in Vorbereitung).

3 Ebd.

4 Stefan Münker, „After the medial turn. Sieben Thesen zur Medienphilosophie“, in: Medienphilosophie, a.a.O., S. 16-25, hier: S. 18.

5 Ebd., S. 19.

6 Elena Esposito, „Blindheit der Medien und Blindheit der Philosophie“, in: Medienphilosophie, a.a.O., S. 26-33, hier: S. 26.

7 Lorenz Engell, „Tasten, Wählen, Denken. Genese und Funktion einer philosophischen Apparatur“, in: Medienphilosophie, a.a.O., S. 53- 77, hier: S. 53.

8 Ebd., S. 77.

9 Ebd.

10 Sybille Krämer, „Erfüllen Medien eine Konstitutionsleistung? Thesen über die Rolle medientheoretischer Erwägungen beim Philosophieren“, in: Medienphilosophie, a.a.O., S. 78-90, hier: S. 88f.

11 Barbara Becker, „Philosophie und Medienwissenschaft im Dialog“, in: Medienphilosophie, a.a.O., S. 91-106, hier: S. 92.

12 Matthias Vogel, „Medien als Voraussetzungen von Gedanken“, in: Medienphilosophie, a.a.O., S. 107-134, hier: S. 107.

13 Ebd., S. 163.

14 Ebd., S. 167.

15 Mike Sandbothe, Pragmatische Medienphilosophie. Grundlegung einer neuen Disziplin im Zeitalter des Internet, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2001.

16 Reinhard Margreiter, „Medien/Philosophie: Ein Kippbild“, in: Medienphilosophie, a.a.O., S. 150-171, hier: S. 166.

17 Aristoteles, Nikomachische Ethik, Buch II/2, 1103b 26, Stuttgart: Reclam 1997, S. 36.

18 Ludwig Nagl, „Ansätze zu einer (noch ausstehenden) Philosophie des Films: Benjam, Cavell, Deleuze“, in: Die Zukunft des Wissens, hrsg. von Jürgen Mittelstraß, Konstanz: UVK 1999, S. 1231-1238, hier: S. 1238.

19 Aristoteles, Nikomachische Ethik, Buch X.8, 1177b25-1178a12, a.a.O., S. 290.

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