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erschienen in: Die Verzeitlichung der Zeit. Grundtendenzen der modernen Zeitdebatte in Philosophie und Wissenschaft, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1998. [weitere Informationen]

Mike Sandbothe

Einleitung

Der disziplinenübergreifenden Auseinandersetzung mit dem Zeitproblem kommt in der gegenwärtigen Situation, die durch eine Pluralität heterogener Zeitkonzepte charakterisiert ist, besondere Bedeutung zu. Im Zentrum der aktuellen Zeitdebatte steht der Versuch, die unterschiedlichen Zeitkonzepte, die sich in den einzelnen wissenschaftlichen Fachdisziplinen entwickeln, sowohl zueinander als auch zur alltäglichen Zeiterfahrung in Beziehung zu setzen (Baumgartner, 1993; Burger, 1993; Le Poidevin/McBeath, 1993; Mainzer, 1996; Gimmler/Sandbothe/Zimmerli, 1997; Baert, 1998). Es lassen sich verschiedene Ansätze unterscheiden, die versuchen, diese Aufgabe zu lösen. Sie sind in die beiden folgenden Entwicklungslinien eingebettet, durch welche die aktuelle Zeittheorie bestimmt ist.

Die erste Entwicklungslinie läßt sich als Tendenz zur Vereinheitlichung und Universalisierung unseres Zeitverständnisses beschreiben. Die Protagonisten dieser Tendenz sind davon überzeugt, daß der Zeitaspekt als ein neuer archimedischer Punkt zu gelten hat, der unsere alltägliche Selbst- und Welterfahrung mit den wissenschaftlichen Theorien vereinigt, die wir uns von Mensch und Natur machen. Dieser Einheitspunkt, so die weitere Argumentation, sei zwar in der Philosophie (etwa bei von Baader, Schelling, Bergson, Whitehead oder Heidegger) immer wieder herausgestellt, von Naturwissenschaft und Technik aber allzu lange ignoriert worden. Erst in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts sei im Rahmen der sogenannten "Selbstorganisationstheorien" (Griffin, 1986; Krohn/Küppers/Nowotny, 1990) im Schnittbereich von Physik, Chemie und Biologie ein universales Zeitkonzept entwickelt und mathematisch operationalisiert worden, das die Überwindung der alten Dualität von Naturzeit und Geschichtszeit ermögliche. Damit zeichne sich die Aufhebung des Konflikts zwischen physikalischem und philosophischem Zeitdenken ab, der für die Zeittheorien des beginnenden 20. Jahrhunderts charakteristisch war (Zimmerli/Sandbothe, 1993). In diesem Sinn stellt beispielsweise der deutsche Zeit- und Geschichtsphilosoph Hermann Lübbe in seinem Buch Im Zug der Zeit heraus, "daß sogar für die Temporalstruktur der Geschichtlichkeit, die nach Heidegger und nach der ihm folgenden hermeneutischen Theorie sich exklusiv aus dem sinnkonstituierenden Selbstverhältnis von Subjekten ergibt, gilt, daß sie in Wahrheit eine sachbereichsindifferente Struktur aller offenen und dynamischen Systeme ist" (Lübbe, 1992, S. 30).

Lübbes Konvergenzthese kann sich auf Überlegungen eines der Begründer der selbstorganisationstheoretischen Zeitforschung stützen. Der Chemophysiker und Nobelpreisträger Ilya Prigogine notierte bereits 1973 mit Blick auf die von ihm entwickelte Theorie irreversibler Prozesse: "Whatever the future of these ideas, it seems to me that the dialogue between physics and natural philosophy can begin on a new basis. I don’t think that I exaggerate by stating that the problem of time marks specifically the divorce between physics on one side, psychology and epistemology on the other. (...). We see that physics is starting to overcome these barriers" (Prigogine, 1973, S. 590f). Die spezifische Signatur der aktuellen Zeitdebatte hat Prigogine in dem 1984 geschriebenen Schlußkapitel seines Buchs Vom Sein zum Werden weiter herausgearbeitet. Er schreibt: "Es ist bemerkenswert zu erkennen, wie weit einige neuere Ergebnisse [der Naturwissenschaft - M.S.] von Philosophen wie Bergson, Whitehead und Heidegger vorweggenommen worden sind, wobei der Hauptunterschied darin besteht, daß sie nur im Gegensatz zur Naturwissenschaft zu solchen Folgerungen gelangen konnten, während wir jetzt beobachten, daß diese Einsichten sozusagen aus der naturwissenschaftlichen Forschung heraus erwachsen" (Prigogine, 1988, S. 262). Und noch einmal schärfer formuliert findet sich Prigogines Konvergenzthese in einem Aufsatz, den er gemeinsam mit Serge Pahaut 1988 publiziert hat: "Sowohl die klassische als auch die relativistische oder Quantenphysik haben sich auf die Zeit, betrachtet als Bewegung, konzentriert. Es schien, als ob die Zeit als qualitativer Wechsel außerhalb ihres Horizontes läge. Daraus ergibt sich einerseits die Versuchung, der wir sogar bei Einstein begegnen, die Existenz der Zeit oder die Geschichte zu leugnen, und andererseits entstehen daraus die Einsprüche von Philosophen wie Bergson, Whitehead, Husserl oder Heidegger, die in dieser Verleugnung einen Offenbarungseid des wissenschaftlichen Vorgehens sehen. Seltsamerweise können wir heute die Möglichkeit einer Synthese ins Auge fassen, die diese beiden Aspekte der Zeit miteinander verbindet" (Prigogine/Pahaut, 1985, S.26).

Die zweite Entwicklungslinie der aktuellen Zeittheorie bekommt man am besten in den Blick, wenn man sich zuvor die Voraussetzung noch einmal deutlich macht, die den Vertretern der Vereinheitlichungs- und Universalisierungstendenz gemeinsam ist. Zeit wird von ihnen als einheitliche und universale Grundstruktur begriffen, die sich der historischen Kontingenz und dem kulturellen Wandel entzieht. So halten Lübbe und Prigogine die "ontologische Universalität des Temporalitätsaspekts" (Lübbe, 1992, S. 31) im Mensch und Natur umgreifenden "partizipatorischen Universum" (Prigogine/Stengers, 1981, S. 267ff, 287f; vgl. auch Wheeler, 1979, S. 407ff) der Selbstorganisation für evident. Die Verfechter der zweiten Grundtendenz, bei der es sich um eine Tendenz zur Historisierung und Relativierung der Zeit handelt, gehen demgegenüber von dem Grundgedanken aus, daß die Rolle, welche die Zeit für das menschliche Selbst- und Weltverständnis spielt, Aspekt eines kulturell divergierenden und sich innerhalb einer Kultur unter kontingenten Bedingungen historisch wandelnden Systems von praktischen und technischen Gewohnheiten ist.

Besonders nuanciert wird dieser Ansatz in der aktuellen Diskussion von dem amerikanischen Pragmatisten Richard Rorty vertreten. Grundvoraussetzung von Rortys Denken ist, "daß eine Überzeugung auch dann noch das Handeln regulieren, auch dann wert sein kann, daß man das Leben für sie läßt, wenn die Träger dieser Überzeugung dessen gewahr sind, daß sie durch nichts anderes verursacht wird als kontingente historische Bedingungen" (Rorty, 1989, S. 306). Rorty zufolge muß ein radikal zeitliches Denken Schluß machen mit der theologisch grundierten Vorstellung, daß sich im Menschen Zeit und Ewigkeit vereinen (Rorty, 1995). Statt dessen fordert Rorty, "daß wir versuchen sollten, an den Punkt zu kommen, wo wir nichts mehr verehren, nichts mehr wie eine Quasi-Gottheit behandeln, wo wir alles, unsere Sprache, unser Bewußtsein, unsere Gemeinschaft, als Produkte von Zeit und Zufall behandeln" (Rorty, 1989, S. 50). Das aber gelingt uns Rorty zufolge nur dann, wenn wir auch die Zeit selbst nicht länger mystifizieren, sondern radikal reflexiv als ein Kind des Zufalls verstehen (Gimmler/Sandbothe/Zimmerli, 1997, S. 1-78; vgl. auch Janich, 1996).

Die Interrelation der Zeitkonzepte, die gegenwärtig in den Wissenschaften zur Diskussion stehen, sowie die Frage nach dem Verhältnis zwischen diesen wissenschaftlichen Zeitkonzepten und unserem alltäglichen Zeitverständnis, sind auf der Grundlage der von Rorty vertretenen Historisierungstendenz pragmatisch zu behandeln. Die Konvergenz zwischen unterschiedlichen Zeitvokabularen, die von den Vertretern der Vereinheitlichungs- und Universalisierungstendenz herausgestellt wird, beweist aus Rortys Perspektive keinesfalls eine intrinsische Koinzidenz zwischen Natur- und Geschichtszeit. Die mathematische und technologische Operationalisierung und erfolgreiche Funktionalisierung desjenigen geschichtlichen Zeitvokabulars, das uns bisher allein zu Zwecken der Selbstbeschreibung gedient hat, verweist nur auf die historische Wandlungsfähigkeit, innere Flexibilität und kontextuelle Rückgebundenheit auch so ausgefeilter Vokabulare wie desjenigen der Physik, der Mathematik oder der Logik. Die verschiedenen Zeitvokabulare, derer wir uns zu unterschiedlichen Zwecken und in unterschiedlichen Kontexten bedienen, sind einem zeitlichen Wandel unterworfen, durch den sie in unterschiedlichen historischen Situationen jeweils auf variierende und kontingente Weise zueinander in Beziehung gesetzt und voneinander geschieden werden.

Die in diesen Überlegungen zum Ausdruck kommende radikale Verzeitlichung der Zeit hat auf literarische Weise bereits Robert Musil umrissen. In seinem Roman Der Mann ohne Eigenschaften schreibt er: "Der Zug der Zeit ist ein Zug, der seine Schienen vor sich herrollt, der Fluß der Zeit ist ein Fluß, der seine Ufer mitführt. Der Mitreisende bewegt sich zwischen festen Wänden und festem Boden, aber Boden und Wände werden von den Bewegungen der Reisenden unmerklich auf das Lebhafteste mitbewegt" (Musil, 1978, S. 445). Innerhalb der modernen Philosophie ist die innere Reflexivität des modernen Zeitverständnisses, die Musil hier artikuliert, von Martin Heidegger grundgelegt worden. In den folgenden Ausführungen werden die herausgestellten Entwicklungslinien der aktuellen Zeittheorie in den Kontext zweier Grundtendenzen gestellt, die das Zeitdenken der Moderne insgesamt durchziehen. Diese Grundtendenzen der modernen Zeitdebatte in Philosophie und Wissenschaft lassen sich als zwei Weisen der Verzeitlichung der Zeit beschreiben (vgl. hierzu bereits Sandbothe, 1994, 1997). Der gegenständlichen Verzeitlichung der Zeit in der Physik steht die reflexive Verzeitlichung der Zeit in der Philosophie gegenüber.

Die unterschiedlichen Weisen der Verzeitlichung der Zeit treten besonders deutlich in den Zeittheorien von Martin Heidegger und Ilya Prigogine hervor, die im Fokus der vorliegenden Untersuchung stehen. Beide Autoren sind prominente Vertreter bahnbrechender Zeitkonzepte im 20. Jahrhundert. Die philosophische Zeitlichkeitsanalyse, die Heidegger in seinem frühen Hauptwerk Sein und Zeit (1927) vorgelegt hat, darf als Magna Charta der Zeitphilosophie des 20. Jahrhunderts gelten. Die nobelpreisbedachten chemophysikalischen Forschungen, die Prigogine in der zweiten Jahrhunderthälfte durchgeführt hat, haben von der Thermodynamik her die Zeitkonzepte in den physikalischen Disziplinen der Dynamik, der Quantentheorie und der Kosmologie in Bewegung gebracht. Die vorliegende Arbeit situiert die Zeitkonzepte von Heidegger und Prigogine historisch im Kontext der Grundtendenzen der modernen Zeitdebatte und setzt sie auf dieser Grundlage systematisch zueinander ins Verhältnis. Die physikalische Verzeitlichung der Zeit wird dabei als historischer Prozeß untersucht, der sich auf der Gegenstandsebene naturwissenschaftlicher Forschung ereignet und in Prigogines Arbeiten kulminiert. Der gegenständlichen Verzeitlichung der Zeit in der Physik wird die reflexive Verzeitlichung der Zeit in der Philosophie als ein intellektuelles Instrumentarium zur Seite gestellt, welches das gegenständliche Zeitverständnis der Physik kritisch zu reinterpretieren erlaubt.

 

Literatur

Baumgartner, Hans-Michael (Hrsg.) (1993): Das Rätsel der Zeit. Philosophische Analysen, Freiburg/München.

Burger, Paul (1993): Die Einheit der Zeit und die Vielheit der Zeiten. Zur Aktualität des Zeiträtsels, Würzburg.

Gimmler, Antje / Sandbothe, Mike / Zimmerli, Walther Ch. (1997): Die Wiederentdeckung der Zeit. Reflexionen-Analysen-Konzepte, Darmstadt.

Griffin, David Ray (1986) (Hrsg.): Physics and the Ultimate Significance of Time. Bohm, Prigogine and Process Philosophy, New York.

Janich, Peter (1996): Die Konstitution der Zeit durch Handeln und Reden, in: Kodikas/Code. Ars Semeiotica, Bd. 19, Nr. 1-2, S. 133-147.

Krohn, Wolfgang / Küppers, Günter / Nowotny, Helga (Hrsg.) (1990): Selforganization - Portrait of a Scientific Revolution, Dordrecht-Boston-London.

Le Poidevin, Robin / McBeath, Murray (1993): The Philosophy of Time, Oxford.

Lübbe, Hermann (1992): Im Zug der Zeit. Verkürzter Aufenthalt in der Gegenwart, Berlin/Heidelberg/New York.

Mainzer, Klaus (1996): Zeit. Von der Urzeit zur Computerzeit, München.

Musil, Robert (1978): Der Mann ohne Eigenschaften, Rowohlt (zuerst in einzelnen Büchern: Berlin, 1930/1933 und Laussane, 1943).

Prigogine, Ilya (1973): Time, Irreversibility and Structure, in: Physicist's Conception of Nature, hrsg. von Jagdish Mehra, Dordrecht/Boston.

Prigogine, Ilya (1988): Vom Sein zum Werden. Zeit und Komplexität in den Naturwissenschaften, überarbeitete und erweiterte Neuausgabe, München.

Prigogine, Ilya / Pahaut, Serge (1985): Die Zeit wiederentdecken, in: Zeit, die vierte Dimension in der Kunst, Weinheim, S.23-33.

Prigogine, Ilya / Stengers, Isabelle (1981): Dialog mit der Natur. Neue Wege naturwissenschaftlichen Denkens, München .

Rorty, Richard (1989): Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt a.M. (engl.: Cambridge 1989)

Rorty, Richard (1995): ‘Philosophy and the Future’, in: Rorty and Pragmatism, hrsg. von H.J. Saatkamp, Nashville und London.

Sandbothe, Mike (1994): Die Verzeitlichung der Zeit. Grundtendenzen der modernen Zeitphilosophie und die aktuelle Wiederentdeckung der Zeit, in: Glaube und Denken. Jahrbuch der Karl-Heim-Gesellschaft, Bd. 7, 108-133.

Sandbothe, Mike (1997): Die Verzeitlichung der Zeit in der modernen Philosophie, in: Die Wiederentdeckung der Zeit, hrsg. von Antje Gimmler, Mike Sandbothe und Walther Ch. Zimmerli, a.a.O., S. 41-62.

Wheeler, John Archibald (1979): Frontiers of Time, in: Problems in the Foundations of Physics. Proceedings of the International School of Physics 'Enrico Fermi', Course LXXII, hrsg. von G. Toraldo di Francia, Amsterdam-New York-Oxford, S. 395-497.

Wood, David (1989): The Deconstruction of Time, Atlantic Highlands (NJ).

Zimmerli, Walther Ch. / Sandbothe, Mike (Hrsg.) (1993): Klassiker der modernen Zeitphilosophie, Darmstadt.

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