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Quelle: http://www.sandbothe.net/128.html

Prof. Dr. Mike Sandbothe


erschienen in: Medienwissenschaft: rezensionen-reviews, 3/2002

Gary S. Schaal (Stuttgart)

Rezension

Subjektivität und Öffentlichkeit. Kulturwissenschaftliche Grundlagenprobleme virtueller Welten, hrsg. von Mike Sandbothe und Winfried Marotzki, Köln: Halem-Verlag 2000.

Der von Sandbothe und Marotzki herausgegebene Sammelband Subjektivität und Öffentlichkeit. Kulturwissenschaftliche Grundlagenprobleme virtueller Welten nimmt seinen intellektuellen Ausgangspunkt in der Annahme, dass die Kulturwissenschaften vor "grundlegende[n] Herausforderungen" (S.7) stehen, die aus dem "internetinduzierten [...] Medienwandel" (S.7) hervorgehen. Diese Herausforderungen machen es notwendig, die Forschungsagenda der Kulturwissenschaften zu reformulieren und zeitgleich den interdisziplinär ausgerichteten wissenschaftlichen Diskurs noch stäker zu vernetzen. Dieser Anspruch spiegelt sich in der thematischen Breite der vorliegenden Beiträge wider, die um die Schwerpunkte "Medienphilosophische Grundlagen", "Digitale Subjektivität" und "Virtuelle Öffentlichkeiten" gruppiert sind. Exemplarisch wird jeweils ein Beitrag aus diesen Schwerpunkten präsentiert.

Eine pragmatische Medienphilosophie des Internet auszuarbeiten, ist seit einigen Jahren das Anliegen von Sandbothe. Im vorliegenden Band verankert er diese Theorie doppelt: In theoretischer Perspektive in der pragmatischen Philosophie von Peirce und Dewey sowie Nietzsche und Wittgenstein, in empirischer Perspektive über die Diagnose, dass eine Pragmatisierung des Medienumgangs aus der Faktizität der neuen Datennetze selbst folgt. Letzteres resultiert daraus, dass die "digitale Codeschrift" (S.92) ein "Universalmedium" (S.92) ist, welches unterschiedliche Medienformen - Texte, Bilder, Musik - ineinander überführbar macht und somit deren uneingeschränkte Vernetzung ermöglicht. Doch auch die Funktion der Schrift ändert sich. Hat die Schriftlichkeit historisch zum temporal induzierten Auseinandertreten von Autor und Leser geführt, so gewinnt in den neuen Medien die performative Dimension des Schreibens an Bedeutung, so dass aus ihr eine im "Modus der Schrift vollzogene Interaktion" (S.96) resultiert.

Der zweite Themenschwerpunkt kreist um "digitale Subjektivität". Alle AutorInnen dieses Abschnittes teilen den Ausgangspunkt, dass das klassische Modell des Subjekts sich aus drei Facetten zusammensetzt: Personalität, Reflexivität und Individualität. Die Kombination dieser drei Facetten spiegelt sich prototypisch im modernen Autor, dessen inwendige, authentische Emotionalität und idiosynkratische Weltsicht eine Kultur der Literaturkritik und -interpretation hervorgebracht haben, die durch die neuen Medien in Frage gestellt wird. Von besonderer Bedeutung ist hierbei die prinzipielle Hypertextfähigkeit aller Texte im Netz im Vergleich zur (inhaltlich) abgeschlossenen Form des Buches und des Aufsatzes in real live. Damit vollzieht sich eine bedeutsame Veränderung: Der Autor verliert an Relevanz, das Nachspüren seiner Intentionen wird obsolet, da es in der Hypertextgalaxis keinen Autor mehr im Singular gibt. Esposito sieht daher "non-authored Kommunikationen" (S.185) am Kommunikationshorizont erscheinen, "die nicht interpretiert, sondern kontextualisiert werden müssen (S.185). Die unausweichliche Tendenz zur Kontextualisierung geht für Esposito jedoch einher mit einem allgemeinen Desinteresse an der Tiefe, so dass sich eine, eher beklagenswerte, "Semantik der Oberfläche" (S.187) ausbilden wird.

Gimmler diskutiert im dritten Themenschwerpunkt das deliberative Potential der Öffentlichkeiten, die sich in unterschiedlichen Formen und Foren durch das Internet ergeben. Hierzu rekurriert sie auf einen normativ anspruchsvollen Begriff von Öffentlichkeit, wie er von Habermas und Peters vertreten wird. Sie kommt zu dem, auch empirisch gesättigten, Fazit, dass das Internet - allen pessimistischen Einschätzungen der letzten Zeit zum Trotz - ein so hohes Potential für anspruchsvolle Deliberation besitzt, dass aus demokratietheoretischer Perspektive der Zugang zum Netz für alle gewährt sein muss. Hierfür bietet Gimmler einen Katalog von Maßnahmen an, der öffentliche Internetterminals ebenso umschließt wie kostengünstige Serverkapazitäten für NGOs.

Die in dem Sammelband vereinten Beiträge sind in vielfältiger Hinsicht hete-rogen; dies müsste dem Band jedoch nicht zum Nachteil gereichen, da nur so die Pluralität der "sogenannten Kulturwissenschaften" (Klappentext) symbolisch zur Darstellung gebracht wird. Stilistisch reicht die Spannbreite von dem streng deduktiv argumentierenden Stil Sandbothes bis hin zum eher explorativen von Esposito. Der in der Einleitung skizzierte gemeinsame Ausgangspunkt - die elementaren Herausforderungen, vor denen die Kulturwissenschaften zur Zeit stehen - knüpft jedoch kein internes Band. Ein denkbarer Bezugspunkt ergäbe sich aus der Diagnose der Faktizität der Neuen Medien. Mit Ihnen verändert sich die - im Sinne Habermas' verstandene - Lebenswelt zum ersten Mal seit einigen Jahrhunderten so nachhaltig, dass ihr "schon immer" nicht mehr gilt. Insofern könnten alle Beiträge produktiv unter dem Fokus der Subjektkonstitution im Spannungsfeld von Kontinuität (Lebenswelt) und Wandel (Ergänzung des "schon immer" durch ein medieninduziertes "noch nie dagewesen") gelesen werden.

Obwohl vieles auch nach der Lektüre von Subjektivität und Öffentlichkeit noch unklar ist, ist eines jedoch eindeutig: Das Buch ist ein Anachronismus, da es noch der Gutenberg-Galaxis und ihrer innerweltlichen Individualität des Subjekts verhaftet ist. Insofern ist der vorliegende Sammelband eigentlich das falsche Medium für den intendierten interdisziplinären Diskurs, hätte doch der Hypertextualität des Ansatzes im Netz viel eher Rechnung getragen werden können als in gedruckter Form. Aber selbst Visionäre müssen mitunter Anachronismen in Kauf nehmen.

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